Humorvoll, märchenhaft, großartig!
Agnieszka liebt das einfache Leben in ihrem Dorf, doch es wird überschattet von einem düsteren verwunschenen Wald, in dem eine Boshaftigkeit existiert die nach den Menschen greift. Die Dorfbewohner sind auf die Hilfe des Zauberers angewiesen, den alle nur als den Drachen kennen. Doch der Preis für seine Hilfe ist hoch: alle zehn Jahre fordert er ein Mädchen aus dem Dorf als Tribut. Die nächste Auswahl steht kurz bevor und Agnieszka fürchtet sich um ihre beste Freundin. Niemand weiß genau nach welchen Kriterien der Drache seine Wahl trifft, doch jeder weiß, dass der Drache kommen und die schöne Kasia auswählen wird. Es gibt keinen Weg sie vor ihrem Schicksal zu bewahren, nur dass es am Ende nicht Kasias Schicksal ist.
»What an unequaled gift for disaster you have.«
- Two
Meine Liebe zu Uprooted begann mit einem Cover-Kauf und kam entsprechend unerwartet. Mit einer von Beginn an ruhigen aber fesselnden Erzählstimme und liebenswerten Figuren entführt Autorin Naomi Novik ihre Leser in eine düster-schaurige Märchenwelt, in der Blut fließt und Köpfe rollen. Wer also bei dem Wort »Märchen« an ein Kinderbuch dachte der irrt zwar, doch die Autorin schafft es dafür erwachsene Leser in eine zauberhafte und magische Welt zurückzuführen, die einem als Erwachsenem manchmal verloren scheint.
Uprooted nimmt einen schon auf den ersten Seiten gefangen und lässt einen kaum mehr los. Man muss sich sehr zusammenreißen, um nicht die Nacht durchzumachen, weil man dringend noch dieses eine Kapitel zu Ende lesen will. Die Autorin hat für ihre Geschichte auf Figuren aus dem polnischen Volksglauben zurückgegriffen und einige ihrer liebsten Figuren daraus erhalten einen kleinen Cameo-Auftritt in dem Roman. Vielleicht hat hier schon einmal jemand von Baba Jaga gehört?
Davon einmal abgesehen ist Uprooted aber keine Märchennacherzählung die für erwachsene Leser angepasst wurde, sondern ein ganz eigenständiges Werk. Es gibt neben schonungslosem Kriegsgemetzel zudem ca. 1,5 Sexszenen in diesem Roman, die weder kitschig noch lächerlich ausgefallen sind, sondern im Gegensatz sehr erwachsen und sinnlich geschildert werden. Allein diese Szenen sollten aber schon dafür sorgen, dass man das Buch keinem Kind in die Hand gibt. ;)
Die Figuren in Uprooted wissen wie die Geschichte selbst, einen auf Trab zu halten! Nicht etwa wegen actionreicher Szenen, von denen es durchaus einige gibt, sondern weil sie einfach mit schrulligen, liebenswerten und hassenswerten Facetten versehen wurden. Fangen wir bei Agnieszka an, die so herrlich chaotisch ist, dass man kaum genug von ihren zahlreichen Fehltritten bekommt. Wenn es etwas gibt, dass Agnieszka kann, dann ist es Unordnung und allgemein Chaos zu verursachen. Nicht, dass sie es mit Absicht täte, es scheint eher ein zweifelhaftes Talent zu sein. Als sich der Drache plötzlich mit ihr allein im Turm herumschlagen muss, kann er einem schon fast leid tun, denn Agnieszka bringt sein ordentliches und schön strukturiertes Leben gut durcheinander. Da hilft auch keine noch so abweisende harte Schale. Die beiden sind wie Feuer und Wasser, was für einen höllischen Spaß sorgt. Dabei kommt der Humor überraschend in die Geschichte und in wohl portionierten Dosen. Agnieszka folgt meist intuitiven Impulsen und improvisiert was da Zeug hält. Sie ist eine gänzlich unperfekte Heldin die erst in ihre Rolle hineinwachsen muss, was ihre Figur umso unterhaltsamer macht.
Im Gegensatz dazu ist der Drache ein Mann, dessen Absichten zunächst unklar bleiben. Er kommt zwar alle zehn Jahre ins Dorf um eines der Mädchen mitzunehmen, scheint davon aber überhaupt nicht begeistert zu sein und man gewinnt schnell den Eindruck es sei eine lästige Pflicht. Er holt sie auch nicht zu seinem persönlichen Vergnügen, wie man schon in den ersten Sätzen lernt, so dass man neugierig Seite um Seite umblättert, um endlich hinter sein Geheimnis zu gelangen.
Er ist eine spannende Figur, die man mal lieben und mal ohrfeigen möchte. Gute 100 Jahre in der Abgeschiedenheit seines Turms haben ihn etwas wunderlich und zu praktisch werden lassen. Deswegen ist man geneigt ihm manch ruppige Bemerkung zu verzeihen. Es gibt aber auch Momente da hilft es nur zu sagen »was für ein Arsch!«. Er umgibt sich gerne mit schönen und glanzvollen Dingen, ist stets gut gekleidet und jedes Haar sitzt wo es sein soll. Das Essen ist perfekt, die Ordnung ist perfekt, die Aussprache seiner Zaubersprüche sind perfekt. Und dann kommt Agnieszka und bringt das Chaos direkt in seinen Turm. Ihre Streitereien sind herrlich mitzuerleben und nach einer Weile wird einem der grantige Zauberer dann richtig sympathisch.
Spannend ist außerdem an ihm, dass er zwar weiiiiit älter als Agnieszka ist, durch die Isolation oder vielleicht auch durch das Alter selbst, ist er aber irgendwie auf einem ähnlich unbeholfenen Level hängen geblieben, zumindest was seine sozialen Fähigkeiten angehen. Das hebt die beiden auf ein ähnliches Level, so dass man bei ihrer weiteren Entwicklung selten das Gefühl hat hier wäre etwas seltsam oder gar verwerflich.
Selbst die weiteren Nebenfiguren sind vielschichtig und nicht immer rein gut oder böse wie man zuerst glauben mag. Am Ende entscheidet sich natürlich jede Figur mehr das eine oder das andere zu sein, aber sie sind nicht eindeutig durchschaubar und spielen mit der Urteilsfindung des Lesers. Man hat sogar das Gefühl der Wald selbst sei eine lebendige Figur, was seine Boshaftigkeit und seine Präsenz in diesem Roman umso stärker macht.
Es geht in Uprooted auch um Freundschaften und Opfer die man bringen muss. Das Verhältnis zwischen Kasia – die im übrigen auch eine tolle Figur ist, aber das darf man hier zur Vermeidung von Spoilern leider nicht näher erklären – und Agnieszka ist ein wunderbares Beispiel dafür. Den Bechdel-Test besteht Uprooted entsprechend ganz locker nebenbei.
Uprooted bietet einen handwerklich wundervollen Umgang mit der Sprache, der es schafft eine altbekannte Formel in ein kunstvolles neues Kleid zu verwandeln. Es wäre wünschenswert, dass es mehr solcher erwachsenen Märchen gäbe, die ihren nostalgischen Zauber bewahren können. Ein spannender, liebevoller, grausamer und versöhnlicher Roman, indem Gut und Böse immer auch einen Funken des anderen in sich tragen. Uprooted hat jeden seiner 5 Sterne redlich verdient und wandert ohne Umwege auf meine Bestenliste für dieses Jahr.